(ip/RVR) Die Kläger sind Miteigentümer eines Grundstücks, welches die Beklagte, ein Energieversorgungsunternehmen, mit Elektrizität versorgt. Die Leitungen für die Versorgung der Straßenanlieger wurden von der Beklagten im Bereich des Grundstücks der Kläger unmittelbar neben der Straße im Grundstück der Kläger verlegt. Die Kläger sehen diese Leitungsführung als fehlerhaft an, weil durch sie die Benutzbarkeit ihres Grundstücks beeinträchtigt werde und die Beklagte gehalten gewesen sei, für die Leitungsführung öffentlichen Grund in Anspruch zu nehmen. Ihre auf Entfernung der Elektrizitätsleitung gerichtete Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Hiergegen wendeten sich die Kläger mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, mit der sie ihr Beseitigungsbegehren weiterverfolgten. Die Revision wurde zurückgewiesen.

Die Kläger sind Eigentümer des durch die Verlegung der Elektrizitätsleitungen beeinträchtigten Grundstücks; die Beklagte hatte mit der Verlegung der Leitungen die Beeinträchtigung veranlasst. Die Kläger können aber nicht gemäß § 1004 Abs. 1 BGB beanspruchen, dass die Beklagte die Leitungen von ihrem Grundstück wieder entfernt. Ein solcher Anspruch ist gemäß § 1004 Abs. 2 BGB ausgeschlossen, weil die Kläger nach § 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 der zum Zeitpunkt der Leitungsverlegung geltenden Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEltV) verpflichtet waren, die Verlegung der Leitungen zuzulassen, und nunmehr verpflichtet sind, sie zu dulden.

Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 AVBEltV haben Kunden und Anschlussnehmer eines Elektrizitätsversorgungsunternehmens, die Grundstückseigentümer sind, für Zwecke der örtlichen Versorgung (Nieder- und Mittelspannungsnetz) das Anbringen und Verlegen von Leitungen zur Zu- und Fortleitung von Elektrizität über ihre im gleichen Versorgungsgebiet liegenden Grundstücke u.a. dann zuzulassen, wenn die betroffenen Grundstücke an die Stromversorgung angeschlossen sind. Die tatsächlichen Voraussetzungen der Duldungspflicht der Kläger aus § 1004 Abs. 2 BGB i.V.m. § 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 AVBEltV waren unstreitig erfüllt. Die Revision war jedoch der Auffassung, einer Duldungspflicht der Kläger habe von vornherein § 8 Abs. 1 Satz 3 AVBEltV entgegengestanden.
Nach § 8 Abs. 1 Satz 3 AVBEltV besteht die einem Grundstückseigentümer aus § 8 Abs. 1 AVBEltV auferlegte Pflicht nur, soweit sie notwendig und zumutbar ist. Aufgrund der gleichwertig möglichen Inanspruchnahme des Straßengrundstücks vertrat die Revision die Auffassung, die Inanspruchnahme des Grundstücks Klägers sei unverhältnismäßig gewesen. Das Auswahlermessen des Versorgungsunternehmens sei dahingehend eingeschränkt gewesen, vorrangig das öffentliche Grundeigentum in Anspruch zu nehmen.
Dem von einer Leitungsverlegung betroffenen Grundeigentümer ist es nach der Rechtsprechung des VIII. Senats grundsätzlich verwehrt, das Versorgungsunternehmen auf die Inanspruchnahme eines anderen Duldungspflichtigen zu verweisen. Denn es ist Sache des Versorgungsunternehmens, nach seinem Ermessen über die Streckenführung, für die technische und wirtschaftliche Erwägungen maßgebend sind, zu befinden; in diesem Zusammenhang entscheidet sich auch, welchen Duldungspflichtigen das Versorgungsunternehmen in Anspruch nehmen will. Einer gerichtlichen Überprüfung ist der dem Versorgungsunternehmen zustehende Ermessensspielraum nur dahin zugänglich, ob es sich bei der getroffenen Entscheidung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens gehalten hat.
Nach Auffassung des erkennenden Senats ist ein Versorgungsunternehmen im Rahmen des § 8 Abs. 1 AVBEltV auch in Fällen, in denen die Inanspruchnahme von privatem und öffentlichem Grundeigentum für eine Verlegung von Elektrizitätsleitungen gleichwertig möglich ist, nicht generell gehalten, öffentliche Grundstücke vorrangig vor privaten Grundstücken in Anspruch zu nehmen.
Zwar sind vor einer Enteignung privater Grundstücke vorrangig Grundstücke der öffentlichen Hand in Anspruch zu nehmen, wenn der mit der Enteignung verfolgte Zweck auf ihnen ebenso gut verwirklicht werden kann. Die Duldungspflicht des privaten Grundstückseigentümers aus § 8 Abs. 1 Satz 1 und 2 AVBEltV stellt jedoch keine Enteignung dar, sondern ist eine nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zulässige Beschränkung des Privateigentums zugunsten des Gemeinwohls, welche die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) konkretisiert. § 8 I AVBEltV regelt lediglich einen angemessenen Beitrag des mitversorgten Grundstückseigentümers zur leistungsfähigen und kostengünstigen Elektrizitätsversorgung, im Interesse der örtlichen Gemeinschaft und somit auch in seinem eigenen Interesse.
Ob im Einzelfall die Belastung des Eigentümers die Grenzen der Notwendigkeit und Zumutbarkeit sprengt, sodass sie nicht mehr mit der Sozialpflichtigkeit des Eigentums zu rechtfertigen ist, ist jeweils wertend anhand der berührten Belange des Allgemeinwohls (möglichst kostengünstige und leistungsfähige Energieversorgung) und der betroffenen Eigentümerinteressen festzustellen. Entscheidend ist (vgl. § 8 Abs. 1 Satz 3 AVBEltV) das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit, nach dem die Einschränkung der Eigentümerbefugnisse zur Erreichung des angestrebten Ziels geeignet und notwendig sein muss sowie die betroffenen Eigentümer nicht in unzumutbarer Weise belasten darf. Hieran gemessen begegnete das Ergebnis der Interessenabwägung, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen hatte, keinen rechtlichen Bedenken. Folglich ergibt sich aus der Eigentumsgewährleistung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG keine Verpflichtung des Elektrizitätsversorgungsunternehmens, vorrangig öffentliche Verkehrswege für die Verlegung von Leitungen für die örtliche Versorgung in Anspruch zu nehmen. Die Ermessensausübung der Beklagten war somit diesbezüglich nicht gebunden.

Der Verordnungsgeber hatte bei Erlass des § 8 AVBEltV zu einem etwaigen Rangverhältnis keine Regelungen getroffen, sondern hat lediglich durch § 8 AVBEltV Abs.6, wonach öffentliche Verkehrswege von der Duldungspflicht nach § 8 Abs. 1 AVBEltV ausgenommen waren, zwischen der Inanspruchnahme von öffentlichen Verkehrswegen und der Inanspruchnahme von privaten Grundstücken innerhalb des Versorgungsgebietes unterschieden (und diese Unterscheidung bei Schaffung der Neuregelung in § 12 Abs. 5 NAV auch beibehalten): Während er eine Duldungspflicht der betroffenen Kunden und Anschlussnehmer aus der Sozialpflichtigkeit ihrer im Versorgungsgebiet gelegenen Grundstücke hergeleitet hat, wollte er für öffentliche Verkehrswege und -flächen eine solche Duldungspflicht nicht begründen. Deren Inanspruchnahme sollte weiter nach der bisherigen Praxis des Abschlusses von Gestattungsverträgen mit Konzessionsabgaben und Folgekostenvereinbarungen geregelt werden. Auf die Einräumung derartiger, den Regeln des Verwaltungsprivatrechts unterliegender Benutzungen können zwar straßenrechtlich begründete Gestattungsansprüche gegen den Träger der Straßenbaulast bestehen. Aber auch aus etwaigen Ansprüchen der Beklagten auf Gestattung einer Leitungsverlegung im Straßenraum folgt nicht, dass die von der Beklagten gewählte Inanspruchnahme des Grundstücks der Kläger ermessensfehlerhaft war.

BGH vom 28.04.2010, Az. VIII ZR 223/09

 

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